Diskurs und Akteur. Widersprüche – Interdependenzen – Synergien

Diskurs und Akteur. Widersprüche – Interdependenzen – Synergien

Organisatoren
Thomas Handschuhmacher / Michael Homberg / Benjamin Schulte, Historisches Institut, Universität zu Köln
Ort
Köln
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2015 -
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Von
Sebastian Schlinkheider, Historisches Institut, Universität zu Köln

„Diskurs“ und „Akteur“ – bereits am Haupttitel des Workshops lässt sich ablesen, auf welcher fundamentalen Ebene das Ziel einer theoretisch reflektierten Diskussion angesetzt war, das sich die drei einladenden Doktoranden des Historischen Instituts der Universität zu Köln gesetzt hatten. Die Adressierung zweier derart grundlegender Kategorien im wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis der Geistes- und Kulturwissenschaften basiert dabei – wie die Veranstalter eingangs skizzierten – auf der Beobachtung eines gewissen „Unbehagens“: Die historische Zunft sei, etwa im Anschluss an die Konzeptionen Willibald Steinmetz‘1, mittlerweile weitgehend übereingekommen, dass Diskurse sich in der historischen Perspektive fortlaufend veränderten, es also zu Phänomenen des Wandels von Bedeutungszuschreibungen und einer umfangreichen Transformation der „Regeln des Sagbaren“2 komme. Dennoch sei mit der Annahme, dass sich diese Zusammenhänge zwar beschreiben, nicht aber ursächlich erklären oder in ihren Modalitäten auf mutmaßlich außersprachliche Determinanten zurückführen ließen, ein offenkundig ebenso weitgehendes Desiderat erkennbar. Der Status vermeintlich weiterhelfender Begrifflichkeiten wie „Subjekt“, „Repräsentant“ oder „Agent“3 sei vielfach nicht ausreichend geklärt, um dem in der historischen Forschung verankerten Bedürfnis nach einem „menschlichen Faktor“ Genüge zu tun. Mit der Wahl der offenen und erklärungsbedürftigen Kategorie „Akteur“ sei daher nicht zuletzt die gemeinsame Suche nach Antworten auf das Bedürfnis unterstrichen worden, als Anstoß des diskursiven Geschehens und seiner historischen Transformationen jemanden dingfest zu machen, „der etwas sagt“, ohne dabei der Verlockung eines Rückfalls in essentialistische Subjektvorstellungen zu erliegen. Wie die Veranstalter in ihrem einleitenden Vortrag ergänzend festhielten, stelle sich diese Problematik in der theoretischen Konzeption aller drei von den Organisatoren verfolgten Forschungsprojekte, sodass die Leitidee des Workshops naheliegend gewesen sei, mit ausgewiesenen Experten auf dem Feld der mittlerweile verzweigten Diskursforschung in eine produktive und offene Diskussion begrifflicher und erkenntnistheoretischer Grundfragen zu treten.

Die erste Sektion „Medien-, sprach- und sozialwissenschaftliche Perspektiven“, bildete in ihrer bewusst interdisziplinären Ausrichtung den Einstieg mit einer Vorstellung heterogener Projektzusammenhänge und deren anschließender Diskussion in dezidiert diskurstheoretischer Hinsicht. Den Auftakt in dieser Reihe machte REINHARD MESSERSCHMIDT (Köln), der sich in seinem Projekt aus der Warte eines „interdisziplinären Sozialwissenschaftlers“ mit dem „Denksystem“ des demografischen Wandels beschäftigt.4 Messerschmidt legte dabei das Konzept einer „Historischen Ontologie“ zugrunde, das dem Frühwerk Foucaults verpflichtet sei und zu einer historischen Begriffsanalyse führe, die die Voraussetzungen und Einflussfaktoren von Äußerungen und ihren Zusammenhang mit konsensualen Wahrheitsordnungen zu ergründen versuche. Konkret befasste Messerschmidt sich mit Stellungnahmen von als „Experten“ für demografische Phänomene behandelten Wissenschaftlern und deren medialer Weiterverarbeitung im öffentlichen Diskurs von Szenarien der Bevölkerungsentwicklung. Diese auf die Qualität demografischen Wissens einflussnehmenden Instanzen wiesen ihm zufolge eine wertende, latent negative Bearbeitung ihres Gegenstandes auf, die er als „demodystopische“ Haltung mit unterschiedlichen Niedergangszenarien charakterisierte. Die dabei aufgestellten Projektionen der abnehmenden Bevölkerungsentwicklung, die auf der Basis einer problematisierbaren statistischen Bearbeitung und Repräsentation des Themas erfolgen, ordnete Messerschmidt einer technokratischen und durch Lobbyvertreter kanalisierten politischen Interessenslage zu. Dieses Zukunftswissen einer „verstümmelten“, weil einseitigen Demografie werde – so analysierte er im zweiten Schritt – von den journalistischen Medien in einer dramatisierten Form der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, mit Verweis auf Expertenwissen und staatliche statistische Institute festgeschrieben und damit politischer Instrumentalisierung preisgegeben. In der Diskussion wurde daraufhin die Frage aufgeworfen, ob es sich bei den von Messerschmidt beobachteten Tendenzen möglicherweise um einen allgemeinen diskursiven Dramatisierungsmodus handeln könne, der auch unabhängig von konkreten thematischen Ausrichtungen wirksam sei und der hinsichtlich möglicher längerfristiger Sedimentierungsprozesse untersucht werden könne.

Das diskursanalytische Interesse der Linguistin HEIDRUN KÄMPER (Mannheim) lässt sich als sprachzentriert beschreiben, insofern ihr Ansatz auf eine Analyse sprachlicher Umbrüche mit Blick auf Demokratisierungsdiskurse abzielte. Unter Verwendung von Kategorien diskursiver Einflussnahme, die an Foucault anschließen, erarbeitete ihr Forscherteam Wörterbücher zu diskursiven Umbrüchen, die die Ebene der sie tragenden Akteure an zentraler Stelle einbeziehen. Dabei werde nämlich versucht, die jeweiligen Rollen dieser Akteure im „diskursiven Raum“ herauszuarbeiten und anhand ihres sprachlichen Gebrauchs sichtbar zu machen. Neben der Identifikation von Diskursgemeinschaften mit einem im Regelfall gemeinsamen Thema (Stichwort: „Referenzidentität“) fragte Kämper nach den Konstellationen von Diskurseliten, deren steuernder Einflussnahme auf den Diskurs „passive“ Akteure in Form von Zuschauern und Konsumenten des Diskurses gegenüberstehen können. Auf einer zweiten Ebene der Akteurseffekte ließen sich als untersuchbare Phänomene vor allem das der „Konsensualität“ (mit diskursiven „Kohärenzphänomenen“) und im Gegensatz dazu „Agonalität“ (als Auseinandersetzung zwischen Leit- und Gegendiskursen) ausmachen. Der Versuch einer empirischen Umsetzung dieser einleitenden konzeptionellen Überlegungen ist die Erarbeitung von online zugänglichen Diskurswörterbüchern, die das Institut für Deutsche Sprache (Mannheim) unter dem Titel Online-Wortschatz-Informationssystem Deutsch (OWID) veröffentlichte.5 Ausgehend von unterschiedlichen sprachlichen Zusammenhängen, etwa dem zwischen 1945 und 1955 untersuchten „Schulddiskurs“ zum Zweiten Weltkrieg, wurden dabei Lemmata zusammengestellt, die sich den unterschiedlichen diskursiven Akteuren und deren Verwendung sprachlicher Schlüsselbegriffe zuordnen lassen. Anhand der Kriterien von „Serialität“ und „Vielheit“ suchte der Ansatz so nach repräsentativen Leitbegriffen, um auf die „mentale Disposition“ der Akteure in den Diskursgemeinschaften zurückzuschließen und ihr Begriffsverständnis als verstehensrelevante Aspekte der zu untersuchenden „sprachhistorischen Fakten“ im Wörterbuch abzubilden und zu fixieren – eine Absicht, die in der Diskussion aufgegriffen, aber auch kritisch hinterfragt wurde.

Den Abschluss des ersten Workshop-Panels bildete der Vortrag von ANNE WALDSCHMIDT (Köln), der weniger eine Präsentation von Forschungsergebnissen verfolgte, als vielmehr eine methodische und auf interdisziplinäre Forschungsprogramme angelegte Skizze zentraler diskursanalytischer Konzepte Foucaults und daran anschließender Forschungszusammenhänge beinhaltete. Neben dem Diskurs selbst seien, so Waldschmidt, Dispositiv und Akteur „Schlüsselbegriffe“ neuerer (wissens-)soziologisch informierter Diskurstheorien. Waldschmidt thematisierte alsdann diese wissenssoziologische Perspektive, die sie in einer engen Verzahnung mit dem interdisziplinären Projekt der Disability Studies verortete.6 Ausgehend vom Fehlen einer eindeutigen Begriffssystematik und fertiger ‚Analyserezepte‘ bei Foucault ließen sich einige Grundtendenzen herausarbeiten und mit etablierten Feldern diskursanalytischer Forschung in Verbindung bringen. So verwies Waldschmidt auf einen Übergang von einer auf Aussagen und Wissenssysteme fixierten Analyse zu einer verstärkten Betrachtung diskursiver Praktiken und deren Verbindung mit institutionalisierten Macht-Wissen-Regimen. Zentrale Herausforderungen der Forschung seien einerseits das Problem, Diskurse zu identifizieren, ohne sie bereits unzulässig vorab in das zu untersuchende Feld hereinzutragen und andererseits die Schwierigkeit einer pragmatischen Begrenzung der untersuchten Aussagen, ohne zugleich eine Reduktion des diskursiven Geschehens zu implizieren. Ansätzen, die eine thematische Fixierung (etwa „Diskurse über…“) versuchten, stünden dabei solchen einer formalen Differenzierung nach diskursiven Funktionslogiken (etwa in „Spezial-“, „Inter-“ und „Alltagsdiskurse“) gegenüber, ohne dass dabei die Formationsregeln mit dem Diskurs selbst kurzzuschließen wären. Insgesamt sei jedoch im Feld eine „handlungstheoretische Verkürzung“ erkennbar, die – übereinstimmend mit dem Anliegen des Workshops insgesamt – gerade vor dem Hintergrund einer Konjunktur praxeologischer Forschungsprogramme in der Soziologie eklatante Fragen nach Akteuren und deren Praktiken aufwerfe. Waldschmidt verwies auf Arbeiten des Kulturwissenschaftlers Andreas Reckwitz, anhand derer sie den Versuch nachzeichnete, im Begriff des Dispositivs eine Integration der Bereiche des Diskurses und der Praxis zu leisten. Dabei würde neben der Signifikation in Zeichensystemen auch die Materialität von Praktiken, Dingen und Artefakten in die Betrachtung einbezogen. Die Diskussion des Beitrages thematisierte unter anderem die Frage, ob bei Foucault der Handlungsraum mithin überhaupt als „besetzt“ oder vielmehr als „leer“ anzusehen sei. Außerdem wurde darauf verwiesen, dass jede (Überlieferung einer) Form der Praxis immer bereits diskursiviert und mit Bedeutungen versehen sei, sodass sich die Rede von nichtdiskursiven Praktiken letztlich als irreführend erweise, auch wenn, wie die Diskussion nahelegte, die Frage nach einem „wilden“ Außen des Diskurses virulent bleibe.

In seinem geschichtstheoretischen Beitrag widmete sich ACHIM LANDWEHR (Düsseldorf) dann – unter dem Obertitel des zweiten Workshop-Panels „Geschichtswissenschaftliche Akzente“ – der Frage nach der Bestimmbarkeit historischer Wirklichkeiten einerseits und damit verbundener Zeitkonzepte andererseits.7 Dabei skizzierte er zunächst einen heilsgeschichtlichen Kontext, in den der Seefahrer Christoph Kolumbus seine zahlreichen Entdeckungsreisen eingeordnet habe und innerhalb dessen er sich als „Christoferens“ („Christusbringer“) identifizierte, der nicht nur befähigt sei, räumliche Distanzen zu überwinden, sondern auch – angesichts als divergent wahrgenommener Entwicklungsstadien – unterschiedliche Zeitebenen zu verknüpfen. Dieses Bestreben verwiese auf die in der Gegenwart relevante geschichtstheoretische Frage, in welcher Weise gerade in der historischen Forschung der Bezug auf vergangene Wirklichkeiten erfolge. Wirklichkeiten verschleierten in ihrer objektivierten Gestalt als „vermeintliche Selbstverständlichkeiten“, dass „die“ Wirklichkeit selbst – im Anschluss an Foucault und Hans Blumenberg – als „Differenzbegriff“ „nicht positiv“ zu definieren sei, sondern allein in der Abgrenzung vom Nicht-Wirklichen bestehe. Versuche man nun, einer Definition des Wirklichen auf dem Wege einer Betrachtung ihrer jeweiligen historischen Aktualisierungen auszuweichen, so ergäben sich wiederum essentialistische Vorstellungen, träte doch nun „die Geschichte“ als Begriff an die Stelle, die zuvor „das Wirkliche“ besetzt habe. Paradoxerweise erweise sich der Modus des Historisierens also als eine bestimmte (typisch abendländische?) Weise der Wirklichkeitsaneignung. Mit Blick auf Kolumbus als „Christoferens“ schlug Landwehr daher vor, Geschichtsschreibung als ein Vermitteln zwischen unterschiedlichen historischen Wirklichkeiten zu begreifen, das als „Chronoferenz“ bezeichnet werden könne. Entgegen der dualistischen Vorstellung einer Trennbarkeit von Gegenwart und Vergangenheit betone die Rede von Chronoferenzen den notwendig relationalen Gehalt des historischen Denkmodus, in dessen Folge sich die aufeinanderfolgenden Repräsentationen von Geschichte zudem gegenseitig beeinflussen, wobei sich das die „abwesenden Zeiten“ transportierende Quellenmaterial als konstitutiv erweise. Landwehr plädierte überdies dafür, von der Disziplin Geschichte weniger als einer Vergangenheitswissenschaft, als vielmehr einer „Gegenwarts- oder Zeitwissenschaft“ zu sprechen, da die Gegenwart an den zeitlichen Orientierungsmustern jeweils zentral beteiligt sei und sie damit leben müsse, dass statt einer klaren Abfolge zeitlicher Ordnungen ein komplexes „Nebeneinander von Relationierungen“ bestehe. Dieser Sachverhalt sei mit dem Begriff „Pluritemporalität“ angemessen zu beschreiben und als ein Basisaxiom jeder historischen Analyse zu akzeptieren.

In seinem Vortrag „Körper von Gewicht reloaded“ stellte JÜRGEN MARTSCHUKAT (Erfurt) schließlich seinen Zugang einer dispositivanalytischen Geschichtsschreibung am Beispiel der Geschichte des „Dickseins“ vor, das die Bedeutungen rekonstruierte, die bestimmten Körperformen zugeschrieben und auf dahinterstehende Vorstellungen von Lebensführung und gesellschaftlicher Konformität zurückgeführt würden. Es ergebe sich eine Geschichte der Fitness, die auf ein „regulierendes Ideal von freiheitlichen, sich über Wettbewerb organisierenden Gesellschaften“ hindeute. Körperliche Leistungsfähigkeit sei dabei einerseits mit der Vorstellung eines autonomen Subjekts verbunden, das „um sich sorgt“, andererseits aber auch mit einer am Körper ablesbaren Befähigung des einzelnen, in einer Gesellschaft aktiv zu „funktionieren“, was mit dem gegenwärtig erkennbaren Gesundheitskonzept korrespondiere, das über die „Abwesenheit von Krankheit“ hinaus ein „mentales und soziales Wohlbefinden“ verfolge. Übergewichtige, nicht-fitte Körper offenbarten in dieser Perspektive einen Mangel an selbstbestimmter Handlungsmacht und damit einhergehend gesellschaftliche Inkompatibilität, was sich in gängigen Klischees von Faulheit oder Disziplinlosigkeit manifestiere. Eine Historisierung der „Fitness“-Vorstellungen8 seit dem späten 18. Jahrhundert zeige eine zunächst passive und auf Traditionen bezogene Konzeption. Um 1900 habe sich das Verständnis der bei Darwin zentral formulierten fitness als „Passförmigkeit“ in einer sozialdarwinistischen Lektüre hin zu einer Vorstellung von Leistungsfähigkeit transformiert. Diese Deutung habe sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstetigt, woran auch der medizinische Diskurs der Risikoprävention beteiligt gewesen sei. Diese historische Entwicklungslinie erscheine zudem ideologisch grundiert durch das Bedürfnis einer liberalen Staatsführung, das Streben nach Glück als zentrales Recht der Bürger zu garantieren, es aber zugleich als Verpflichtung zu formulieren, die auch körperliche Aspekte adressiere – ein Zusammenhang, dem das Konzept der biological citizenship (Nikolas Rose) Rechnung trage, das einen breitgefassten Begriff von Staatsbürgerschaft auch an Körperlichkeit knüpfe. Ein Blick in die Geschichte US-amerikanischer Bürgerkonzepte zeige dabei deutlich, dass hier von Beginn an – etwa über die Kategorien Rasse und Geschlecht – eine Teilhabe an der bürgerlichen Gesellschaft an körperliche und trotz der dynamischen liberalen Grundidee recht statische Merkmale geknüpft gewesen sei. Die sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts hätten eben diese Statik infrage gestellt, woran – und hier habe eine forschungsimmanente Selbsthistorisierung anzusetzen – auch die diskursanalytischen und teilweise emanzipatorisch formulierten Ansätze der Sozial- und Kulturwissenschaften nicht unbeteiligt gewesen seien. Ihr „Glaube an die Performativität von Kategorien und Sozialordnungen“ begünstige das Aufkommen von Optimierungsnormen, was sie als einen Teilaspekt desselben Dispositivs offenbare, das auch den zeitgenössischen Fitnesskult hervorbringe. Der dicke Körper sei im Ergebnis heute offenbar das „konstitutive Andere des fitten Leistungskörpers und Erfolgsmenschen“ – auch wenn das keinesfalls ausschließe, dass innerhalb dieser Regulierungspraxis viele Menschen schlicht Freude an sportlicher Betätigung empfänden.

Es folgte die Abschlussdiskussion, die durch einen Kommentar von HABBO KNOCH (Köln) eingeleitet wurde, der die heterogenen Forschungsvorhaben und Konzepte, die im Verlauf des diskussionsorientierten Workshops aufgeworfen worden waren, bündelte und sich anschließende Fragen im Umfeld der Herausforderung skizzierte, die spannungsreichen Kategorien „Diskurs“ und „Akteur“ produktiv weiterzudenken. Der Verweis auf den Diskurs und verwandte Konzepte Foucaults sei dabei so ubiquitär wie vielgestaltig und offenbare ein regelrechtes Spektrum von pragmatisch-methodischen Übernahmen bis hin zu emanzipatorischen Ansätzen und (selbst-)kritischen Betrachtungen etwa der Moderne. In methodischer Hinsicht seien dabei offene Fragen nach der Abgrenzung des diskursiven Geschehens und seiner möglichen „Aggregatzustände“ erkennbar, was etwa zu der Diskussionsfrage führte, ob der Diskurs ontologisch vorhanden sei oder nicht vielmehr vom Forschenden als Beobachtungsgegenstand konstruiert werde. Dies lege nahe, angesichts der Standortgebundenheit jedes wissenschaftlichen Zugriffs auch darüber nachzudenken, ob der Verweis auf diskurstheoretische Begriffe und Verfahren mitunter nicht auch dem Interesse der Selbstversicherung von Rationalität im wissenschaftlichen Prozess diene. Schließlich sei auch auf die Frage zurückzukommen, wie das Außertextliche, also etwa die Praxis und das Materielle, Eingang in die diskursanalytische Forschung finden können, was sich in der Suche nach einer Bestimmbarkeit von „Akteuren“, also beispielsweise nach „Sprecherpositionen“ oder diskursiven „Eliten“, niederschlage. Grundlegend müsse dabei geklärt werden, ob es sich bei den Akteuren im Diskurs um diejenigen handele, „die einen Unterschied machen“ oder ob nicht wiederum die forschende Beobachterposition die Akteure vielmehr erst hervorbringe.

Mit der Gelegenheit zu ausgiebiger und durchaus kontroverser Diskussion konnte der Workshop einen Beitrag dazu leisten, auf sehr unterschiedlichen thematischen Feldern und epistemologischen Ebenen der Grundfrage nach dem erklärungsbedürftigen Verhältnis von Diskursphänomenen und mit ihnen wechselwirkenden Akteurpositionen nachzuspüren. Es bleibt zu vermuten, dass Zusammenhänge dieses theoretischen Grundproblems die geisteswissenschaftlichen Disziplinen und auch interdisziplinäre Forschungsvorhaben der kommenden Jahre weiterhin nachhaltig und in vielfältiger Weise beschäftigen werden.

Konferenzübersicht:

Thomas Handschuhmacher, Michael Homberg, Benjamin Schulte (Köln): Begrüßung und Einführung

Sektion 1: Medien, sprach- und sozialwissenschaftliche Perspektiven

Reinhard Messerschmidt (Köln): Historische Ontologie à la Foucault und das gegenwärtige Denksystem demografischen Wandels

Heidrun Kämper (Mannheim): Akteur – eine notwendige Perspektive der Diskurslinguistik

Anne Waldschmidt (Köln): Diskurs, Dispositiv und Akteur. Soziologische Überlegungen zu Interdependenzen und Widersprüchen

Sektion 2: Geschichtswissenschaftliche Akzente:

Achim Landwehr (Düsseldorf): Wie wirklich ist die historische Wirklichkeit?

Jürgen Martschukat (Erfurt): ‚Körper von Gewicht‘ reloaded

Habbo Knoch (Köln): Kommentar und Übergang zur Abschlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Willibald Steinmetz, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte. The State of the Art, in: Heidrun Kämper / Ludwig M. Eichinger (Hrsg.), Sprache – Kognition – Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung, Berlin 2008, S. 174–197.
2 Grundlegend dazu: Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970, München 1974.
3 Vgl. dazu etwa Reiner Keller / Werner Schneider / Willy Viehöver (Hrsg.), Diskurs – Macht – Subjekt: Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung, Wiesbaden 2012.
4 Vgl. zu diesem Themenbereich auch Reinhard Messerschmidt, „Garbled demography” or „demographization of the social”?: A Foucaultian discourse analysis of German demographic change at the beginning of the 21st century, in: Historical Social Research 39 (2014), S. 299–335.
5 Online-Wörterbuchprojekt abrufbar unter URL: <http://www.owid.de/>, zu den Grundlagen vgl. Heidrun Kämper, Diskurslexikografie als gesellschaftsbezogene Wortforschung. Vorstellung eines Wörterbuchkonzepts, in: Jörg Kilian (Hrsg.): Deutscher Wortschatz – beschreiben, lernen, lehren: Beiträge zur Wortschatzarbeit in Wissenschaft, Sprachunterricht, Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2015, S. 21-38.
6 Vgl. Anne Waldschmidt, Macht – Wissen – Körper. Anschlüsse an Michel Foucault in den Disability Studies, in: Dies. / Werner Schneider (Hrsg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung: Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld 2007, S. 55-78.
7 Vgl., bezogen hier auf das 17. Jahrhundert, auch Achim Landwehr, Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2014.
8 Vgl. Jürgen Martschukat, Über die Modellierung des Körpers und die Arbeit am Selbst in den USA des Späten 19. und Frühen 20. Jahrhunderts, in: Ralph J. Poole (Hrsg.), Hard Bodies, Wien 2011, S. 197-218.


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